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Finnische Weihnacht von Reiner Schrader

Finnische Weihnacht    von Reiner Schrader

Steffen Deubner  / pixelio.de
Steffen Deubner / pixelio.de

Wie fast alle Finnen hatte sie ein Sommerhaus. Es lag mitten im Wald, auf einer weiten Lichtung, zu der ein holpriger, mit Gras und Wurzelwerk durchsetzter Weg hinabführte. Auf der Rückseite eine Wiese, Büsche, ein langes Blumenbeet. Am Ende der Wiese stieg die Erde zu einem flachen Hügel an, hinter dem sich, nur wenige Schritte hangabwärts, ein kleiner sumpfiger See verbarg.

Das alles hatte ich erst am nächsten Morgen richtig wahrgenommen. Als ich ankam, spätabends, herrschte tiefste Dunkelheit. Nur der See leuchtete feucht und glatt vom buckligen Waldboden und ließ eine schwache Fahrspur erkennen.

Ich hatte einen genauen Lageplan. Und solange der Weg noch breit und übersichtlich war, hatte ich nur wenig Mühe mich zurechtzufinden. Aber allmählich wurde er schmaler und kurvenreicher und begann, sich zwischen den Bäumen zu verlieren. Die Spur, an die ich mich bis dahin leidlich hatte halten können, war längst unter einer gleichmäßigen weißen Decke verschwunden. Ging es hier nach rechts?  Ich hatte es aufgegeben, mich an irgendetwas zu orientieren. Ich fuhr einfach weiter, vorsichtig, angestrengt spähend, auf gut Glück in die Richtung, in der ich das Haus vermutete.

Und dann plötzlich Schluss. Zwischen den beiden Stämmen war kein Durchkommen mehr. Wie mächtige Schlagbäume, von grimmigen Grenzwächtern aufgepflanzt, wuchsen sie aus dem Dunkel, und sie brauchten nicht einmal einen Querbalken, um die Weiterfahrt zu beenden. Ich saß fest; eingekeilt zwischen dürren Kiefern und bizarren Büschen, die wie nackte Gespenster ins volle Scheinwerferlicht starrten.

Ich stieg aus, um zu sehen, ob ich wenden konnte. Da fiel mein Blick auf einen schwachen Schimmer, der einsam im Labyrinth knorriger Äste schwebte, nur vierhundert, fünfhundert Meter entfernt.

Ich stapfte sofort los. Der Schnee lag knöcheltief; kalte, struppige Sträucher schlugen mir entgegen; manchmal verfing sich mein Fuß in Geflecht, das unsichtbar unter winzigen Wehen lauerte. Es war das Haus, das ich suchte.  Ein niedriger, langgestreckter Holzbau mit Keller, Schuppen und Veranda. Die Lampe über dem Eingang tauchte es in ein mattes, unwirkliches Licht – wie bei Häusern auf alten Adventskalendern. Genau richtig, dachte ich, um Weihnachten zu feiern.  Ich war froh, dass ich es in dieser Wildnis gefunden hatte.

Die Wohnstube war warm und gemütlich. Der massige Leib des Kachelofens strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Es duftete nach Zimtbrötchen. Der hohe Tannenbaum entfaltete ein sattes, zufriedenes Grün, über das von behutsamen Händen breite rote Bänder gelegt waren.

Maire brachte unentwegt neue Köstlichkeiten aus der Küche. Nach dem Essen begaben wir uns aufs Sofa. Das große Fenster zeigte uns eine schwarze, undurchdringliche Nacht. Kein Laut war zu hören, nur das zaghafte Knistern des Feuers und hin und wieder ein unerklärliches Rascheln.

Wir hatten uns rote Zipfelmützen aufgesetzt. Das sei in Finnland so üblich, hatte Maire gesagt. Und dann erzählte sie uns vom Weihnachtsmann – von einem Weihnachtsmann, der Joulupukki heißt und mit seinem Rentierschlitten ganz von Korvatunturi in Lappland herunterkommt, um die Kinder überall mit seinen Gaben zu beglücken. Natürlich auch die Kinder von Karelien, im hintersten Winkel Finnlands, wo man in der Ferne schon die dunklen Wälder Russlands sieht.

Ich lauschte ihrer ruhigen, melodischen Stimme, die mir wie ein trauter Gesang aus alten Zeiten klang. Und dann sang auch ich mit ihr und den anderen das schönste Weihnachtslied „Oi kuusipuu, oi kuusipuu ( O Tannenbaum, o Tannenbaum) und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich nach unzähligen vergeblichen , aber tapfer erneuten Versuchen schließlich die ganze erste Strophe auf Finnisch geschafft.

Und das war viel erhebender als dieses „Hauskaa joulua!“ (Fröhliche Weihnachten!), das wir immer wieder übermütig in unser Geplauder mischten.

An Winterweihnachtssstimmung herrschte kein Mangel. Es fehlte eigentlich nur noch der Elch, der bedächtig und kraftvoll durch den gelblich-fahlen Lichtschein schritt, den die Kerzen nach draußen auf die schneebedeckte Wiese warfen. Aber die einzigen Tiere, die wir im Wald von Kakensdorf, in der Heide vor den Toren Hamburgs, mit etwas Glück vielleicht am nächsten Morgen, im Milchdunst des aufgehenden Tages, zu Gesicht bekommen würden, waren ein paar Rehe, die langsam über den Hang zogen.

 

 

Geschichten am Kamin (5)